Special Teil I: 16. Spieltag | FC St. Pauli - Rot-Weiss
Essen
Es gibt nur eine Hafenstraße!!!!!! (St. Pauli
Special Teil I)
Unter diesem Motto steht wohl auch dieses mal
wieder das Duell der Braun-Weißen vom Millerntor
und den Rot-Weissen von Deutschlands einzig wahrer
Hafenstraße.
FC St. Pauli meets Rot-Weiss-Essen, man darf mit Fug
und Recht behaupten, dass hier zwei große Kult-Clubs
des deutschen Fußballs die Klingen kreuzen,
deren beste Zeiten lange, bei den Gästen sogar
noch weitaus länger zurückliegen, deren
Anhänger aber dafür bekannt sind mit nahezu
unerschütterlicher Treue die Berg- und Talfahrten
ihrer Mannschaften mitzumachen.
Auf den ersten Blick haben sie wenig gemeinsam, entstammen
doch die Paulianer der mondänen Weltstadt Hamburg,
dem legendären Tor zur Welt, während
die Essener als Klub aus der einst größten
Stahlstadt Europa stets den Charme von Kohle und Arbeit
versprühten. Dennoch haben der Klub aus dem hohen
Norden und der aus dem tiefen Westen eine Art Seelenverwandtschaft,
die sich erst bei einem näherem Hinsehen offenbart.
Elegante Elbchausseen, die Binnenalster, das Nobelviertel
Blankenese, Sylvie van der Vaart, Tennisturniere am
Rothenbaum, der Michel, all das sind die Wahrzeichen
und Sehenswürdigkeiten Hamburgs, aber fußballerisch
verbunden werden sie nicht mit dem Stadtteilklub St.
Pauli, sondern sie passen viel eher zu dem noblen
HSV, dem fünfmaligen Deutschen Meister und zweifachen
Europapokalsieger.
St. Pauli ist nur ein kleiner Teil der Hansestadt,
aber dennoch vielleicht sogar der berühmteste,
bestimmt aber der verruchteste. Die Nähe zum
Tor der Welt, dem Hamburger Hafen mit
den St. Pauli Landungsbrücken, gab dem Stadtteil
sein unverwechselbares Flair. Bei St. Pauli fällt
einem erst mal das Vergnügungsviertel ein, welches
Mitte des 19. Jahrhunderts dank der Matrosen entstand.
Auf der legendären Reeperbahn und den angrenzenden
Seitenstraßen drängeln sich neben unzähligen
Touristen vor allem Kneipen, Bars und Sexshows, nicht
umsonst steht hier auch Deutschlands wohl bekannteste
Polizeiwache, die Davidswache. In der Herbertstraße,
für die zahlreich mitreisenden weiblichen RWE-Fans
allerdings strikt tabu, räkeln sich die käuflichen
Damen im Schaufenster, in der Eckkneipe zum Goldenen
Anker trifft man noch hanseatische Originale.
Die sündige Meile ist mit ihrem exotisch verruchtem
Flair eine Reise wert, und pünktlich um halb
eins klingen egal in welcher Kneipe und nicht nur
in der Großen Freiheit Nr. 7 die Töne von
Hans Albers aus den Lautsprechern. Das heutige Große
Freiheit Nr. 36 war früher unter dem Namen
Star Club bekannt dafür, einer Band
namens The Beatles ganz im Sinne des Stadtmottos
das Tor zur Welt geöffnet zu haben.
In diesem besonderen Flair gedieh der FC St. Pauli,
eine Art Schmuddelkind des Hamburger Fußballs
mit Kultfaktor 10. Seine Spielstätte hat er am
Stadion am Millerntor, was etymologisch nichts mit
Fußball, sondern mit einem der früheren
Stadttore der Hansestadt zu tun hat. Am ehesten verstehen
kann man den Paulianer vielleicht, wenn man sich an
eine Begebenheit aus dem gutbürgerlich-konservativem
Aktuellen Sportstudio des ZDF aus den
80er Jahren zurückerinnert. Damals zu Gast war
Volker Ippig, seines Zeichens Keeper des frisch gebackenen
Bundesligaaufsteigers FC St. Pauli. Ippig spielte
nicht nur bei St. Pauli, sondern war quasi St. Pauli
bzw. die Verkörperung seines Geistes. Der Mann,
der dem in Gotthilf Fischer Outfit gekleidetem und
Seelsorgerscharm versprühenden Dieter Kürten
gegenübersaß, trug alte ausgewetzte Jeans,
ein Schmuddelshirt mit ausgeleiertem Kragen und ein
Potpourri von wirren hellblond gefärbten Fransen
auf dem Kopf. Auf Kürtens Frage hin, ob er einen
Gegensatz darin sehe, früher einmal der Hausbesetzerszene
der anderen, der Hamburger Hafenstraße angehört
zu haben, und nun als Bundesligaprofi sein Geld zu
verdienen, antwortete Ippig mit einer Mischung aus
hanseatischem Esprit und der Ablehnung, die ein rebellierender
Halbstarker seinem spießbürgerlichem Vater
entgegenbringen würde, Nö, seh ich
überhaupt nich! Diese Aussage dürfte
zugleich die längste des Interviews gewesen sein.
So wie Ippig und Kürten, so war auch die anfängliche
Beziehung zwischen dem Millionengeschäft Bundesliga
und einer Insel der alternativen Szene, des Protestes
gegen das Establishment und des Widerstandes auf allen
Ebenen. Zumindest vordergründig passte dieser
Deckel nicht auf diesen Topf.
Das ist ein Teil der Wahrheit über St. Pauli,
aber natürlich auch ein weitaus größerer
Teil seines Mythos und seiner Verklärung ins
Klischeehafte. Denn genau wie andere auch, schreckte
in späteren Jahren auch St. Pauli nicht davor
zurück, dem einstigen Klassenfeind
um Hilfe zu bitten, als es ihnen finanziell mehr als
dreckig ging. Man muss kein Fußballexperte sein,
um zu erkennen, dass besonders ein Verein in der Bundesliga
das genaue Gegenteil der als linksradikal verschrieenen
Pauli-Szene darstellt. Der große FC Bayern,
Krösus und Großkotz der Eliteliga wurde
noch zu Beginn der 90er auf der Titelseite der Stadionzeitung
mit der Headline Klassenkampf empfangen,
was natürlich Uli Hoeneß und diverse Verstimmungen
auf den Plan rief. Gut ein Jahrzehnt später spielten
die Münchener dann am Millerntor für den
finanziell siechenden und kurz vor dem Kollaps stehenden
Hamburger Verein ein Benefizspiel und Uli H. wurde
mit Ulli, Uli -Rufen gefeiert, wo ihm
Jahre zuvor noch in Anlehnung auf seinen Nebenjob
Würstchen um die Ohren gepfeffert wurden.
Überhaupt war St. Pauli immer einfallsreich,
wenn es darum ging mit diversen Aktionen Geld in die
chronisch leeren Vereinskassen zu spülen und
arg gefährdete Lizenzen zu sichern. Viel Geld
machte man mit dem Retter-T-Shirt, welches
bundesweit ein Verkaufsschlager wurde. Die Fans des
verhassten Lokalrivalen HSV reagierten darauf mit
einem Bettler-T-Shirt. Und als in der
Rückrunde 2001/02, Pauli stand nahezu abgeschlagen
am Tabellenende, der große FC Bayern mit 2:1
am Millerntor besiegt wurde, brachten die Paulianer
daraufhin in Anlehnung an den jüngsten großen
Erfolg der Lederhosenträger ein Kleidungsstück
mit der Aufschrift Weltpokalsiegerbesieger
auf den Markt. In der Not frisst der Teufel also Fliegen,
um als Klub im Profifußball überleben zu
können begab man sich ebenso auf die einst so
verhasste Kommerzschiene wie anderswo. Böswillige
Zungen behaupten, St. Pauli wäre heutzutage eine
Art FC-Bayern für Erfolglose, d.h.
ebenso wie der erfolgreichste Klub Deutschlands Fans
in Scharen anzieht, die sich in dessen Erfolgen sonnen
wollen, bietet St. Pauli ein Stück Kult für
Jedermann, auch für Leute, die niemals Hamburgs
Stadtgrenzen betreten haben und die Fönfrisur
des Bankangestellten mit Rebellion signalisierenden
Dreadlocks getauscht haben.
Wie gesagt, um Hamburgs Kultklub ranken sich ebenso
viele Legenden wie um den berühmten Stadtteil,
aus dem er stammt und in dem er seine Spielstätte
hat. Mythos und Realität haben in beiden Fällen
nicht mehr allzu viel gemeinsam, ein wahrer Kern aber
bleibt bestehen.
Wie eingangs erwähnt finden sich durchaus Parallelen
zwischen St. Pauli und RWE. Klischeebedingt gibt es
zwar den Gegensatz zwischen links- und rechtsradikalen
Randalierern, so sehen besonders gutinformierte Zeitgenossen
die beiden Fangruppen, deren einzige Parallele es
sei, dass beide keine Schneidezähne mehr im Hals
hätten. Bei genauerem Hinsehen gibt es aber diverse
Gemeinsamkeiten, die teilweise verblüffend anmuten.
Die Ursprünge beider Vereine sind 1907 zu suchen,
obwohl St. Pauli das Jahr 1910 im Wappen führt.
"Die Geschichte des FC St. Pauli von 1910 beginnt
nicht, wie der Name vermuten lässt, im Jahre
1910, sondern mindestens drei Jahre früher. Seine
Ursprünge sind untrennbar verbunden mit der des
Hamburg - St. Pauli Turnvereins von 1862, der übrigens
heute noch existiert. Dort wurde bereits ab 1907 gegen
den Ball getreten, allerdings noch nicht im Rahmen
eines geregelten Spielbetriebs.
Erst 1910 traten die Kicker des Klubs dem Norddeutschen
Fußball-Verband bei, 1911 bestritten sie die
ersten Punktspiele, und 1924 trennten sie sich schließlich
vom Turnverein und gründeten den FC St. Pauli",
so recherchierte René Martens für sein
1997 erschienenes Buch "Youll Never Walk
Alone". RWE gibt als Gründungsjahr 1907
an, firmiert aber erst seit dem Zusammenschluss mehrer
Borbecker Großvereine im Jahre 1923 als Stadtverein
Rot-Weiss-Essen. Zu ganz ähnlichen Zeitpunkten
erblickten also beide Klubs, bzw. ihre Vorgänger
das Licht der Fußballwelt und erhielten dann
nahezu zeitgleich ihre heutigen Namen.
Beide Vereine haben ihre besten Tage weit hinter sich,
beide schauen aber mit unerschütterlicher Zuversicht
immer wieder nach vorne und wurden zusammen mindestens
zwei Dutzend Mal für tot erklärt, um am
Ende dennoch weiterzuleben.
Trotz des Gegensatzes zwischen der Weltstadt Hamburg
und der nur regionalen Größe Essen sind
beide Vereine ursprüngliche Malocherklubs. Sowohl
für RWE als auch für St. Pauli spielt in
ihrer Stadt eine jeweilige Hafenstraße
eine sehr große Rolle. Beide peilen in diesem
Jahr die Rückkehr in den Profifußball an.
Und beide trafen sich schon zu einigen großen
Duellen, welche auch die Vereinsgeschichten widerspiegelten.
...Fortsetzung folgt
(sm)
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